Institut für Musik und Medienwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin
zu Ausstellungsreihe 100 Jahren Erte Weltkrieg
Kuratiert von Dr. Lily Fürstenow-Khositashvili
[Extrakt
aus dem Kapitel "Preußen in den Bibliotheken: Staatsbibliothek
Berlin", in: Wolfgang Ernst, Im
Namen von Geschichte. Sammeln - Speichern - (Er)Zählen.
Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses,
München (Fink) 2003]
Am
1. April 1920 bricht mit der Lautabteilung
das
Reale der Frequenzaufzeichnung in die symbolische Ordnung der Lettern
ein: „Die toten Buchstaben und Büchertexte werden hier durch die
Ergänzung der Lautplatte lebendig und verkörpern eine wirkliche
Lautbücherei.“2
Damit wird der Schriftbegriff, durch den sich die Leipziger Deutsche
Bücherei mitten im Weltkrieg frontal auszeichnet (ihr
inschriftliches Schiller-Motto Körper
und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken),
grammophon - in einem Speichermedium, das (im Unterschied zu
Druckbuchstaben) zwischen Signal und Geräusch nicht mehr trennt3.
Weshalb die Lautabteilung der Berliner Staatsbibliothek konsequent
auch „Geräusche natürlicher und künstlicher Art und andere“
aggregiert, etwa das „Rauschen der Blätter“. Was als
literarische Poesie der Romantik begonnen hat4,
kommt im Realen der transsymbolischen Aufzeichnungsmedien zu sich.
Der Krieg, der diese neuen technischen
Aufnahmemethoden
(das glyphische
System:
„Eingravierung von Lautschwingungen mittels eines nach bestimmten
Grundsätzen geschliffenen Saphirs oder Rubins auf eine Wachsplatte
in Berliner Schrift“) durchsetzt, schreibt sich diesem neuen
Gedächtnis selbst, als écriture
automatique ein:
„Gewehrfeuer (Theorie des Knalls), Fliegergeräusche“. Derselbe
Krieg stellt nicht nur neue Aufzeichnungstechniken von Kultur,
sondern auch deren Laborsituation zur Verfügung; zwischen dem 4. und
6. Oktober 1916 macht der Keltologe Rudolf Thurneysen im Lager
Köln-Wahn im Auftrag der 1915 gegründeten Phonographischen
Kommission
Lautaufnahmen von Kriegsgefangenen nicht nur zu archäo- oder
ethnologischen, sondern ebenso zu propagandistischen Zwecken.5
Basis der Lautabteilung in der Berliner Bibliothek sind die während
des Weltkriegs auf Anregung Doegens in Kriegsgefangenenlagern unter
der wissenschaftlichen Leitung Stumpfs erstellten Aufnahmen; so wird
aus Lager Speicher.6
Die auf galvanoplastischem Wege in negative Kupferabzüge
verwandelten Wachsplatten generieren eine neue, physikalisch
induzierte Form von Denkmal:
„Die Stimmen aller führenden Persönlichkeiten der Welt werden
hier gleichsam in einem Stimmenmuseum festgehalten“ <ebd.>.
Weltkrieg II läßt diese Transformation von schrift- in physikalisch
basierte Monumente des deutschen Gedächtnisses eskalieren. Die
Reorganisation der deutschen Wirtschaft im Zuge des Zweiten
Weltkriegs bewirkt das produktionsbedingte Zusammenkommen von
Menschen mit verschiedenen Dialekten aus diversen deutschen
Reichsteilen in Mitteldeutschland; dort kommt es auf Kinderebene zu
einer "Mischsprache", deren Zusammenwachsen
wissenschaftlich erschlossen werden soll, in diskreten Schritten. Das
Archiv als Bedingung dessen, was überhaupt erfaßbar und damit
buchstäblich sagbar ist, ist hier ein technisches Dispositiv, um
„feinste, sehr allmähliche Vorgänge zu beobachten und
festzuhalten - Sprachgeschwindigkeit, Pausen, Sprachmelodie. Erst die
Erfindung der Wachsplatte hat überhaupt die Möglichkeit der
wissenschaftlichen Arbeit auf diesem Gebiet gegeben.“7
Der Nervenarzt Dr. Eberhard Zwirner suchte parallel dazu geistige
Erkrankungen von Patienten in deren sprachlicher Artikulation
nachzuvollziehen, wie sie "nur von dieser Grundlage aus
festgestellt werden konnten", und gründet 1935 am
Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch ein
Deutsches Spracharchiv mit Schallplatten und anderen "akustischen
Dokumenten". Daraus erwächst in Braunschweig das selbstständige
Kaiser-Wilhelm-Institut
für Phonometrie, Deutsches Spracharchiv.
Die Erschließung der Salzgitter-Erze durch die Reichswerke Hermann
Göring bringen deutschstämmige Arbeitskräfte zusammen; hier hofft
man nun "aus der gegenseitigen Durchdringung und Abschleifung
der einzelnen Mundarten, das Entstehen einer `neuen Umgangssprache´,
sozusagen also einer neuen `Mundart´, beobachten zu können".
Hier entstehen nun Archive des Lebens, denn diese Arbeit "stellt
sich in einen gewissen Gegensatz zu den bisher in der
Sprachwissenschaft üblichen Methoden" der statistischen
Mittelwerte:
„Nicht
mehr die sprachliche Vergangenheit und ihre Zeugnisse sind ihr
Betätigungsfeld, sondern die lebende Sprache des Alltags. `Die
Sprache, der die Historiker bisher nachgelaufen sind wie der Junge
dem Schmetterling, entwickelt sich jetzt vor unserem Auge und wie
durch ein Vergrößerungsglas gesehen´, heißt es in einer
Veröffentlichung von Dr. Dietrich Gerhard <...>. <...>
Die vor mehr als vier Jahrzehnten in dem <...> Buch von Theodor
Siebs festgelegte Hochform der deutschen Sprache wird in der
Wirklichkeit von niemand gesprochen, ein durch die verschiedene
Dialekte und durch `Nachlässigkeiten´ bestimmtes Mittelding nimmt
ihren Platz ein. Zudem hat Siebs seinerzeit zwar die Art und
Erzeugungsstelle der einzelnen Laute (Zunge, Gaumen, Kehle)
festgelegt, nicht aber eine Normung von Tonhöhe, Tonfall,
Sprachgeschwindigkeit, Klangfarbe, der Pausen und der Sprachmelodie
versucht. <...> Neue Verfahren der Lautmessung, der
`Phonometrie´, Statistik und graphischen Darstellung werden dabei
Pate stehen, die Schallplatte wird das unentbehrliche Handwerkzeug
sein. Man wird sich <...> in aller Heimlichkeit mit einem
Aufnahmeapparat in das Büro einer Behörde setzen und dann nach
einem gewissen Zeitraum <...> versuchen, den Lautstand und die
Sprache derselben Menschen erneut aufs Korn zu nehmen. Bei alledem
wird es darauf ankommen, Maßmethoden zu entwickeln, die erlauben,
den Stand der Sprache eines bestimmten Menschen wie überhaupt die
Melodie der gesprochenen gesunden deutschen Sprache in Zahlen
auszudrücken und vergleichbar zu machen. Schließlich schwebt dem
Institut als höchstes Ziel vor, den augenblicklichen Zustand der
deutschen Sprache mit all ihren Mundarten in einem umfassenden Werk
zu überliefern, so wie es vor einigen Jahren <...> schon
einmal die Deutsche Beamtenschaft in ihrem `Lautdenkmal deutscher
Mundarten zur Zeit Adolf Hitlers´ versucht hat.“ <ebd.>
Denn
die Monumente des 20. Jahrhunderts nehmen Formen der mathematischen
Immaterialität an; das Gedächtnismedium ihrer Beschreibung ist
nicht mehr der sprachliche Text, sondern das Diagramm: "Bei dem
deutschen Spracharchiv handelt es sich um ein einzigartiges
Forschungsinstitut <...>, das zur Aufgabe hat, durch
phonometrische Schallplattenaufnahmen das gesamte Erscheinungsbild
der deutschen Sprache zu registrieren und zu beschreiben."8
Hier wird das Speichermedium vom Gedächtnis- zum Meßinstrument. Wo
neben eine phonetisch-linguistische Abteilung eine
mathematisch-statistische Abteilung sowie eine
physikalisch-technische Abteilung treten soll, sind nicht mehr
Germanisten oder Philologen, sondern Mitarbeiter mit der Fähigkeit
zu "umfangreichen Mess-, Zähl- und Rechenarbeiten"
verlangt9:
„Erforderlich ist jedoch die
Anstellung eines Elektrotechnikers zur Überwachung der Apparatur,
zur technischen Durchführung der Schallaufnahmen und zur
Hilfeleistung bei den Überschneidungen der Magnetophon-Aufnahmen auf
Wachs und bei der Auswertung der Schallplatten; ferner ein Photograph
zur Durchführung anthropologischer Photographien sowie von Tonfilmen
zur Erforschung der gestikulatorischen Sprechbewegungen. <...>
Ein in dieser Weise aufgebautes Institut würde es möglich machen,
die am Buch und Buchstaben hängende Sprach- und Lautwissenschaft
unter Beibehaltung der vergleichend-sprachwissenschaftlichen
Aufgaben, unter Heranziehung naturwissenschaftlicher Voraussetzungen
und Methoden zum lebendigen Sprechen und zu der sprechenden Person in
ihrem natürlichen Lebenskreis hinzuführen.“ <ebd.>
Damit
wird Leben in seiner Umwelt selbst archivierbar. Dahinter aber
verbirgt sich eine Kriegswissenschaft; als genannter Dr. Zwirner sich
als Regimentsarzt sich um Versetzung an das Luftwaffenlazarett in
Braunschweig bemüht, dann mit der Begründung, seine früheren
Versuche über psychische und Sprachstörungen fortzusetzen, "die
bei Sauerstoffmangel in grossen Flughöhen oder bei körperlichen
Erschöpfungszuständen auftreten <...> und gleichzeitig die
Auswertung dieser Untersuchungen für das Deutsche Spracharchiv in
Angriff" zu nehmen.10
1
Ferdinand
Trendelenburg, Klänge und Geräusche. Methoden und Ergebnisse der
Klangforschung, Schallwahrnehmung, grundlegende Fragen der
Klangübertragung, Berlin (Julius Springer) 1935, 51
2
Wilhelm Doegen, Die Lautabteilung, in: Fünfzehn Jahre Königliche
und Staatsbibliothek 1921: 253-258 (253)
3
„In Graphie und/oder Phonie des Titelworts `Sprache´ steckt die
Lautverbindung `ach´“: Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme
1800 / 1900, München (Fink) 1985, 48. Dort auch die Abschnitte
„Elemente von Sprache und Musik um 1800“ (48ff); zum Einbruch
der technischen Aufzeichnungsmedien: ders., Grammophon, Film,
Typewriter, Berlin (Brinkmann & Bose) 1987. Das Vorwort hebt an
mit einer Erinnerung an den Großen Generalstab der Weltkriege:
„Medien bestimmen unsere Lage“ (3).
4
Siehe Paul de Man, Anthropomorphismus und Trope in der Lyrik, in:
ders., Allegorien des Lesens, aus d. Amerikan. v. Werner Hamacher u.
Peter Krumme, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988, 179-204
5
Dazu Aimée Torre Brons, Propaganda mittels Urahnen. Die Keltologie
im Dritten Reich, in: Berliner Zeitung Nr. 78 v. 2. April 1998, 15.
Brons kommentiert: „Jede auf Nationalität bzw. Volkstum
begründete Wissenschaft scheint besonders anfällig für politische
und ideologische Vereinnahmungen zu sein.“
6
Doegen 1921: 255f. Siehe auch W. E., Hornbostels Klangarchiv:
Gedächtnis als Funktion von Dokumentationstechnik, in: Sebastian
Klotz (Hg.), „Vom tönenden Wirbel menschlichen Tuns“: Erich M.
von Hornbostel als Gestaltpsychologe, Archivar und
Musikwissenschaftler, Berlin / Milow (Schibri) 1998, 116-131
7
Artikel <gezeichnet "G. W."> "Eine neue
Umgangssprache?" in: Frankfurter Zeitung v. 16. Mai 1942
8
Auszugsweise Abschrift zum Dokument LG 1400 Bswg - 378 I. des
Reichsministers der Finanzen, Berlin, 21. Juni 1940, an die
Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin
(Schloß), in: Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, I.
Abt., Rep. 0001 A, Nr. 2938
9
Schreiben des Deutschen Spracharchivs (Staatliches Institut für
Lautforschung) Braunschweig vom 16. Juni 1940 an den
Braunschweigischen Minister für Volksbildung, zum Vorschlag der
Umwandlung des Archivs ins ein Institut der
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
10
Der Braunschweigische Minister für Volksbildung am 12. März 1942
(Aktenzeichen V I 407/42) an die Generalverwaltung der
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin, ebd.
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